Die verwunschene Jungfrau

Unweit des Marktes Königswiesen erhebt sich tief im Wald ein steiler Felsen, bei dem es nicht recht geheuer sein soll. Einmal kamen zwei junge Burschen aus Königswiesen zu dem Felsblock und sahen droben eine Frau mit silberweißen Haar sitzen. Erstaunt betrachteten sie die seltsame Erscheinung. Dann aber begann der eine zu spotten: „Schau dir einmal das seltsame Geschöpf an; das muß gewiß schon eine sehr alte Jungfrau sein!“

„Ja, das bin ich“, erwiderte das weibliche Wesen mit ernster Miene. „Dreimal schon habe ich den Wald wachsen und abholzen gesehen. Ich bin verwunschen, hier auf diesem Stein zu sitzen, ihr aber könnt mich erlösen, wenn ihr morgen um die gleiche Zeit wieder zu dem Felsen kommt. Dann werdet ihr mich auf diesem Steinblock als feurige Schlange sehen, die einen glühenden Schlüssel im Maul hält; zugleich wird ein furchtbares Gewitter losbrechen, daß ihr glauben werdet, der Weltuntergang sei gekommen. Erschreckt aber nicht darüber, es wird euch nichts geschehen. Tretet nur mutig an die Schlange heran und reißt ihr den Schlüssel aus dem Rachen. Getraut ihr euch aber nicht, das zu tun, so muß ich auf meine Erlösung wieder warten, bis der kleine Schößling, den ihr dort am Boden seht, zu einem mächtigen Baum herangewachsen ist, aus dessen Brettern eine Wiege gezimmert werden kann. In dieser Wiege soll das Kind liegen, das mich erlösen wird.“ Nach diesen Worten verschwand die Jungfrau.

Die beiden Burschen eilten nach Hause, fest entschlossen, am nächsten Tag das Wagnis zu unternehmen. Als sie dann wirklich zur Stelle waren, geschah alles, wie die Jungfrau angekündigt hatte. Kühn traten sie an die Schlange heran; schon wollten sie den Schlüssel aus ihrem Maul nehmen, da brach ein so furchtbarer Sturm los, und es blitzte und krachte so entsetzlich, daß die beiden das Weite suchten.

Hinter ihnen aber tönte das leise Weinen der Jungfrau, die nun wieder viele Jahrzehnte auf jenen Jüngling warten muß, der sie vielleicht erlösen wird.

Quelle: Die schönsten Sagen aus Österreich, o. A., o. J., Seite 329